Influenza, SARS, multiresistente Keime – viele Erreger stellen die Medizin vor große Herausforderungen. Das Potsdamer Biotech-Unternehmen preclinics erforscht derzeit ein neuartiges Antikörperkonstrukt, das auch gegen neue, gefährliche Erreger eingesetzt werden könnte. Der große Vorteil: Das Notfallmedikament ließe sich deutlich schneller entwickeln als ein neuer Impfstoff.
Wer sein Auge über das ländliche Niedersachsen schweifen lässt, gerät womöglich ins Stutzen. Auf der Weide nahe dem Örtchen Engeln grasen hier vor allem Kamele, Lamas und Alpakas. Sie gehören zur Research Farm der preclinics Gesellschaft für Präklinische Forschung mbH, die ihren Hauptsitz in Potsdam hat. Das 2007 gegründete Biotech-Unternehmen bietet auftragsbezogen Dienstleistungen und Produkte für die Arzneimittelentwicklung rund um die präklinische Forschung an.
Dazu zählen verschiedene Modelle der Wirksamkeitsprüfung, ein zuverlässiger und schneller Pharmakokinetik-Service (PK-Service) sowie maßgeschneiderte Verträglichkeitsprüfungen. Auch für die Prüfung von RNA/DNA Therapeutika, Impfstoffen, Antikörpern und Stammzellen bringt das Unternehmen alle Voraussetzungen mit - von in vivo Imaging über humanisierte Tiermodelle und ein Sicherheitslabor für Infektionsstudien.
Spezialisiert hat sich preclinics auf Biologika. Das sind biotechnologisch hergestellte Medikamente, welche körpereigene Strukturen ersetzen oder ergänzen. Dazu zählen therapeutische Proteine, insbesondere Antikörper, sowie Stammzellen, aber auch RNA- sowie DNA-Therapeutika. Ein besonderes Augenmerk liegt auf Antikörpern für die Diagnostik und zu therapeutischen Zwecken. Typische Einsatzgebiete sind entzündliche Autoimmunerkrankungen, wie z.B. Rheuma. Auch in der Onkologie, insbesondere der Tumorimmunologie, setzt man immer stärker auf therapeutische Antikörper.
Mitunter kommen in der Forschung durch Zufall überraschende Erkenntnisse zutage, die einzigartige Innovationen versprechen – so auch im Labor des Potsdamer Unternehmens, wo aktuell das so genannte Immunojunction-Projekt vorangetrieben wird. „Wir entwickeln derzeit ein Antikörperkonstrukt, mit dem wir die Tetanus-Immunität – die fast jeder Mensch hat – auf neue Ziele umlenken wollen, so dass sie zur Bekämpfung von Erregern genutzt werden kann. Mit diesem Ansatz könnte man perspektivisch sehr schnell ein Notfallmedikament entwickeln,“ erklärt preclinics-Geschäftsführer Jonas Füner den innovativen Ansatz. Genau hier liegt der entscheidende Vorteil gegenüber dem Impfen: Das Prozedere zur Entwicklung eines neuen Impfstoffes dauert viele Monate – mitunter zu lang, wenn neue, gefährliche Erreger auftreten. „Unser Antikörperkonstrukt wäre insbesondere für den Katastrophenschutz von Interesse,“ ergänzt Füner.
Die Kamele und Lamas, die in Niedersachsen weiden, dienen dabei als Ursprungsquelle. „Wir möchten perspektivisch Bibliotheken vom Immunrepertoire der Kamele anlegen. Auf dieser Grundlage können wir entsprechende Antikörper identifizieren, die an einen Erreger binden, inklusive der genetischen Sequenz – ohne immunisieren zu müssen“. Mit dieser Sequenz könnte preclinics dann direkt in die Produktion gehen und die Immunojunction-Proteine herstellen. Sobald das Verfahren etabliert ist, würde es nur wenige Wochen dauern, um die Antikörper verfügbar zu haben.
Auch Infektionskrankheiten, gegen die der menschliche Körper keine Immunität aufgebaut hat bzw. aufbauen kann, hat preclinics mit seinem Antikörperkonstrukt im Blick. Hier können sich die Forscher die spezifischen Eigenschaften der kameliden Antikörper zunutze machen: Durch ihre geringere Größe und spezielle Form können diese tiefer in Gewebe eindringen und so auch Antigene binden, die für konventionelle Antikörper nicht erreichbar sind. „Diese Eigenschaften können wir mithilfe unserer Immunojunctions den menschlichen Antikörpern hinzufügen,“ erklärt Füner. Vereinfacht ausgedrückt: Antikörper docken an die Immunojunctions, die sich wiederum an den Erreger haften – eine Kopplung von körperfremden mit körpereigener Antikörpern.
Füner betont, dass es bei dem Forschungsvorhaben nicht darum gehe, das Impfen zu ersetzen, sondern zu ergänzen. Ein wichtiger Vorteil dieses Immunisierungs-Ansatzes sei, dass die Therapie jederzeit abgebrochen werden könne, sollte der Patient sie beispielweise nicht vertragen.
Noch steckt das Potsdamer Unternehmen mit seinem Vorhaben in den Anfängen. Das Proof of Concept aber steht bereits. Als nächstes müssen die Wissenschaftler den Nachweis der Wirksamkeit erbringen und eine Infektion mithilfe des neuartigen Antikörperkonstruktes kurieren – und zwar besser als dies mit den bereits auf dem Markt befindlichen Mitteln gelingt. „Wir haben dabei vor allem die multiresistenten Keime im Blick“, sagt Füner – jene Erreger (MRE), gegen die gängige Antibiotika wirkungslos sind und die insbesondere im Krankenhaus ein großes Problem darstellen. „Die Fallzahlen sind dramatisch,“ so der Geschäftsführer. Dem Bundesgesundheitsministerium zufolge infizieren sich in Deutschland jährlich zwischen 400.000 und 600.000 Menschen während eines Klinikaufenthalts. Eine Studie in der Europäischen Union aus dem Jahr 2009 geht davon aus, dass europaweit etwa 25.000 Menschen aufgrund von antimikrobieller Resistenz sterben.
Generell stockt die Forschung, was die Entwicklung neuer Therapieformen zur Bekämpfung der multiresistenten Erreger betrifft. Nicht aber in Potsdam. Vielleicht hören wir von hier schon bald eine Erfolgsmeldung, die auch überregional von großer Bedeutung sein dürfte.
Sämtliche Tests in der medizinischen Diagnostik basieren auf Antikörpern. Testsysteme auf Grundlage der sogenannten Schwer-Ketten- oder cameliden Antikörper funktionieren zuverlässiger aufgrund deren spezifischer Eigenschaften: Vorteile sind eine bessere Löslichkeit, eine hohe Hitzebeständigkeit und eine größere Stabilität. Zudem können camelide Antikörper Antigenstrukturen erkennen, die für klassische Antikörper unerreichbar bleiben. Die InnoProfile-Transfer-Initiative „Camelide Antikörper“, an der auch die preclinics Gesellschaft für Präklinische Forschung mbH mit drei weiteren regionalen Industriepartnern beteiligt war, hatte zum Ziel, die Nutzung von Kamelantikörpern durch neue Herstellungs- und Aufreinigungsverfahren zu vereinfachen.
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